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Beitrag vom 27.01.2020
Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen. Doppel-DVD, herausgegeben von der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen
Helga Egetenmeier
Eine Auswahl von zehn Filmen, die in der gleichnamigen Retrospektive auf der 69. Berlinale zu sehen waren, wird auf diesen zwei DVDs präsentiert. Gedreht zwischen 1967 und 1998 von ost- und westdeutschen Regisseurinnen, reflektieren die Arbeiten...
... den weiblichen Alltag und die Wünsche, Phantasien und Utopien von Frauen in der Zeit der zweiten Welle des Feminismus.
Als sich in den 1960er Jahren ein neues, rebellisches Lebensgefühl entwickelte und der zweite feministische Aufbruch sich formierte, gab es einige Regisseurinnen, doch sie waren noch seltene Ausnahmen, wie Larissa Schepitko und Marguerite Duras. "Es musste sich also etwas ändern.", schreibt dazu die Journalistin und Filmkritikerin Claudia Lenssen im Booklet zur DVD. Und dies geschah, wie sie weiter schreibt, in den 1960er Jahren, als "eine kleine, bis heute stetig wachsende Zahl Regisseurinnen in der Männerdomäne Fuß zu fassen" begann.
Am 8. März 2019 erschien mit dieser Doppel-DVD diese einmalige Sammlung an Dokumentar- und Spielfilmen, die die leidenschaftliche Suche nach neuen Wegen der weiblichen Filmemacherinnen in dieser Aufbruchszeit widerspiegelt. Dass dabei Frauen aus zwei unterschiedlichen Gesellschaftssystemen berichten, macht die Auswahl der vorgestellten zehn Filme zu einem historischen Highlight. Sie zeigen Einblicke in die reale Arbeitswelt, wie auch private Auseinandersetzungen mit den herkömmlichen Lebensgewohnheiten.
Überblick der ausgewählten Filme
In ihrem, als komödiantischen Spielfilm angelegten Kurzfilm "Manöver" (BRD 1967, 10´), setzt sich May Spils mit den Problemen des frühen Aufstehens, einem ungeschriebenen Gesetz in der Leistungsgesellschaft, auseinander. Ula Stöckl lässt dagegen in "Neun Leben hat die Katze" (BRD 1968, 92´) unterschiedliche Frauen alternative Wege zur weiblichen Selbstbestimmung erahnen, für die es noch keine Rollenmuster gibt.
Ihre Stellung als arbeitende Frau in einem Textilkombinat reflektieren in Gitta Nickels Dokumentarfilm "Sie" (DDR 1970, 30´) ihre Protagonistinnen sowohl privat als auch beruflich. Dagegen zeigt Elfi Mikesch mit ihrer Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm in "Ich denke oft an Hawaii" (BRD 1978, 84´) die Phantasie einer Jugendlichen, die mit ihrem Bruder und der alleinerziehenden Mutter in prekären Verhältnissen in der Westberliner Gropiusstadt aufwächst. In der kleinen Wohnung hängt sie exotischen Träumen nach, die die Sehnsucht nach ihrem Vater, einem US-Soldaten aus Puerto Rico, und der Wunsch nach einem anderen Leben in sich tragen.
Auf der zweiten DVD sind fünf Filme vereint, die Ende der 1970er Jahre gedreht werden und die auf die Wendezeit zusteuern. So konnte der Dokumentarfilm "Heim" (DDR 1978/1990, 25´) von Angelika Andrees und Petra Tschörtner, der sich kritisch mit der Situation von Jugendlichen zwischen prekären Familienverhältnissen, häuslicher Gewalt und Kinderheim auseinandersetzt, erst nach der Wende uraufgeführt werden. Mit Christine Noll Brinckmanns Experimentalfilm "Dress Rehearsal und Karola 2" (BRD 1979/1980, 14´) folgt, fast wie ein Gegensatz, das Posing mit auf unübliche Weise benutzten Kleidungsstücken durch die Künstlerin Karola Gramann.
In "Das Fahrrad" (DDR 1982, 86´), zeigt Regisseurin Evelyn Schmidt die Lebensfreude und Probleme der ungelernten Arbeiterin Susanne. Sie lässt durch die alleinerziehende und unangepasste Mutter das Klassensystem der DDR-Gesellschaft sichtbar werden. Dagegen wirkt "Die Mitspeisenden" (BRD 1989, 15´) von Hermine Huntgeburth wie ein unheimlicher Blick in die Enge einer Geschwisterkonstellation, die trotz ihrer Fröhlichkeit in einer düsteren Wohnung keine Freiheit erkennen lässt.
Ein weiterer Dokumentarfilm, "Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann" (DDR 1989, 53´) von Helke Misselwitz, zeigt die winterlichen Kohlelieferungen, die in Ostdeutschland noch über die Wende hinaus zum Alltag gehörten. Sie porträtiert die Chefin einer privaten Kohlenhandlung im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg und deren Fürsorge für ihre Mitarbeiter*innen.
Die Filmsammlung beendet der Kurzfilm "Miss World" (BRD 1998, 5´) von Barbara Marheineke, in der Lotta Svalberg slapstickartig die vielfältigen Ansprüche an eine "Karrierefrau" darstellt. Damit schließt die Filmsammlung mit einem Bild der Frau als prekär Beschäftigte, die nebenbei den Haushalt macht und lächelnd und perfekt gekleidet alle Anforderungen durch Beruf und Privatleben meistert - ein Ideal der Leistungsgesellschaft, das auch heute seine Gültigkeit noch nicht verloren hat.
AVIVA-Tipp: Eine vielfältige und sehenswerte Sammlung von Filmen, die immer wieder eine Betrachtung wert ist. Sie zeigt den Mut von Frauen, zu ihren Wünschen und ihrem Leben zu stehen. Und sie zeigt, wie vielfältig und präsent Frauen in der Filmbranche sind - auch wenn die großen Filmfestivals dies in der Regel unterschlagen.
Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen
2 DVDs, 10 Filme
Herstellungsland: BRD, DDR, 1967 - 1998
Verleih: absolut Medien
Ab dem 8. März 2019 auf DVD
Technische Facts
Laufzeit: ca 407 Minuten
Bild: PAL, s/w, Farbe
Ton: Mono, Stereo
Sprachfassung: Deutsch, englische Untertitel
Regionalcode: codefree
Specials: ausführliches Booklet von Claudia Lenssen
Artikel-Nr. & EAN: 8025 / 978-3-8488-8025-6
Mehr zum Film und der Trailer unter: www.absolutmedien.de
Angaben zu den Filmen auf DVD I
Manöver, BRD 1967, s/w, 10 Min.
Regie: May Spils, Darsteller*innen: May Spils, Werner Enke
Neun Leben hat die Katze, BRD 1968, digital restaurierte Fassung 2014, Farbe, 92 Min.
Regie, Drehbuch: Ula Stöckl, Darsteller*innen: Liane Hielscher, Marie Philippine, Antje Ellermann, Elke Kummer, Heidi Stroh, u.a.
Sie, DDR 1970, s/w, 29 Min.
Regie: Gitta Nickel, Dokumentarfilm
Ich denke oft an Hawaii, BRD 1978, Farbe & s/w, 84 Min.
Regie, Buch, Kamera: Elfi Mikesch, Dokumentarfilm mit: Carmen, Ruth und Dieter Rossol
Angaben zu den Filmen auf DVD II
Heim, DDR 1978/1990, s/w, 25 Min.
Regie: Angelika Andrees, Petra Tschörtner, Dokumentarfilm
Dress Rehearsal und Karola 2, BRD 1979/1980, Farbe, 14 Min.
Regie: Christine Noll-Brinkmann, Experimentalfilm
Das Fahrrad, DDR 1982, digital restaurierte Fassung 2018, Farbe, 86 Min.
Regie, Drehbuch: Evelyn Schmidt, Darsteller*innen: Heidemarie Schneider, Roman Kaminski, Anke Friedrich, u.a.
Die Mitspeisenden, BRD 1989, s/w, 15 Min.
Regie: Hermine Huntgeburth, Darsteller*innen: Marina Wandruszka, Emanuela von Frankenberg, Ronald Reder, Wolfgang Rüter
Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann, DDR 1989, s/w, 53 Min.
Regie: Helke Misselwitz, Dokumentarfilm
Miss World, BRD 1998, Farbe, 5 Min.
Regie, Drehbuch: Barbara Marheineke, Darstellerin: Lotta Svalberg
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen.
Herausgegeben von Karin Herbst-Meßlinger und Rainer Rother.
Sie. Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme. Herausgegeben von Cornelia Klauß und Ralf Schenk.
Zwei Sachbücher über Filmemacherinnen und Regisseurinnen aus der DDR, der BRD und dem gemeinsamen Deutschland erschienen passend zur Berlinale 2019 im Berliner Bertz + Fischer Verlag. Inhaltlich schließen sie an die diesjährige Retrospektive des Filmfestivals an, die Frauen hinter der Kamera präsentiert. (2019)
Claudia Lenssen, Bettina Schoeller-Bouju (Hrsg.) - Wie haben Sie das gemacht? Aufzeichnungen zu Frauen und Film
Das Kompendium achtzig facettenreicher Erfahrungs- und Lebensgeschichten von Frauen hinter und vor der Kamera, am Schneidetisch und in der Produktion, lehnt sich bewusst an diese Insider*innen-Frage an, die auf Truffauts berühmte Befragung Hitchcocks anspielt. (2014)